File:Musteraufsätze 1913 von Theodor Paul - Seite 164.jpg

vorherige Seite - Seite 164 - nächste Seite

TEXT

Land gebietet. Alles, was sich der Mensch an irdischen Gütern nur wünschen kann, ist ihm in reichster Fülle zuteil geworden, nämlich Macht, Reichtum und Ansehen. Die kräftigsten Söhne seines Volkes stehen als Verteidiger an seinem Throne, und die herrlichste Blüte weiblicher Schönheit bildet die Zierde seines Hofes. Er ist ein unbeschränkter Gebieter in allen Dingen, welche als die Hauptbestandteile des irdischen Glückes angesehen werden. Ein mächtiger Gebieter ist aber auch der Sänger, freilich in einem ganz anderen Reiche, einem Reiche, dessen Be- herrschung das Weltgeschick nur sehr wenigen Sterblichen als besondere Gnade verliehen hat, er ist ein Herrscher und Meister im Reiche der Kunst des Gesanges! Er hat keinen Anteil an den weltlichen Gütern, die einem Fürsten und Könige in so hohem Matze in den Schotz gefallen sind, aber er hat einen unschätzbaren Reichtum von Liedern und Melodien in der Brust. Diese aus der geheimnisvollen Tiefe seines Innern hervorzuholen und sich dabei auf den Flügeln der Begeisterung über die Schranken dieser Welt emporzuschwingen, ist für ihn selbst schon ein so hoher Genuß, daß ex kaum eines anderen Genusses bedarf. Wie der Vogel, der auf dem Zweige sitzt, mit Heller Kehle sein Lied singt, weil ihm das Singen die höchste Freude macht, so ist auch das Herz des Sängers von Freude geschwellt, wenn er seine Stimme im Gesänge erschallen läßt. Und welche Macht übt er erst über die Herzen derer aus, die ihm zuhören! Hingerissen lauschen auf ihn die Damen und Herren des Hofes und vergessen darüber alles, was sie soeben beschäftigt hat. Selbst der König steht unter dem Banne seines Liedes und denkt daran, den auserlesenen Genuß mit einem königlichen Geschenke in Gold und Silber zu belohnen. Der König ist eben nicht nur ein Mann von großem Reichtum, er weiß diesen Reichtum auch zu benutzen, um andere Menschen damit zu beglücken. Er gibt gern und freudig, und seine Gaben werden stets gern angenommen. Er läßt dem Sänger eine goldene Kette reichen, das ist ein Preis, wie er sonst nur den um das Wohl des Staates hochverdienten Männern zuteil wird. Aber auch der Sänger geizt nicht mit seinen Gaben. Ohne sich lange bitten zu lassen, öffnet er die Schatzkammer seiner Lieder. Nicht die Sucht nach schnödem Gewinn hat ihn in den Saal der Burg, des Königspalastes geführt. Alles, was er begehrt, ist ein Labetrunk, der ihm die Kehle zu neuen Liedern erfrischen soll, und auch diesen betrachtet er nicht als einen verdienten Lohn, sondern als eine unverdiente Gabe, für die man herzlich zü danken hat.

	This work is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author's life plus 100 years or fewer. You must also include a United States public domain tag to indicate why this work is in the public domain in the United States.
	This file has been identified as being free of known restrictions under copyright law, including all related and neighboring rights.

https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/PDMCreative Commons Public Domain Mark 1.0falsefalse

This work is in the public domain in the United States because it was published (or registered with the U.S. Copyright Office) before January 1, 1929. Public domain works must be out of copyright in both the United States and in the source country of the work in order to be hosted on the Commons. If the work is not a U.S. work, the file must have an additional copyright tag indicating the copyright status in the source country. Note: This tag should not be used for sound recordings.PD-1923Public domain in the United States//commons.wikimedia.org/wiki/File:Musteraufs%C3%A4tze_1913_von_Theodor_Paul_-_Seite_164.jpg