File:Musteraufsätze 1913 von Theodor Paul - Seite 083.jpg

vorherige Seite - Seite 83 - nächste Seite

TEXT

Z9. Der Ritt des Wüstenkönigs. Nacherzählung nach demGedicht „Löwenritt" von Freiligrath. Wenn der Löwe, der Wüstenkönig, seinen Hunger stillen will, wandelt er nach der Lagune, d. h. nach der sumpfigen Wasserstelle, um sich im hohen Schilfe zu verbergen und um sicher den trinkenden Gazellen und Giraffen auflauern zu können. Sobald nach jäh hereingebrochener Nacht die Feuer in den Hottentottendörfern glühen, die Kaffern einsam durch die Steppen schweifen, im Buschwald die Antilope und am Wasser das Gnu (südafrikanische Antilope) schlummern, schreitet die buntgefleckte Giraffe stolz und würdevoll zur Lagune, um mit deren trübem Wasser ihren brennenden Durst zu löschen. Kniend schlürft sie gierig mit ihrem langen Halse aus dem schlammigen Borne. Diesen günstigen Augenblick erwartet und erspäht der Löwe. Mit einem kühnen Satze springt er brüllend auf den Rücken des Tieres. In die fleischigen Muskeln des langgestreckten Genicks schlägt er blutgierig seine gewaltigen, spitzen Fangzähne, und seine gelbe Mähne flattert um den Bug seines erschreckten Opfers. Mit Blitzesschnelle erhebt sich die Giraffe, um rhrem grimmigen Peiniger zu entfliehen. In sausendem Galopp fliegt sie über die mondbestrahlte Steppe. Starr treten ihre Augen aus ihren Höhlen hervor; das Blut rieselt unaufhörlich über ihren braungefleckten Hals und netzt die dürre, schmachtende Erde; ihr Herz pocht und hämmert in gräßlicher Todesangst. So geht es mit Windeseile über das endlose, öde Sandmeer der Wüste, während eine hoch aufwirbelnde Säule gelben Sandes den Weg der Giraffe bezeichnet. Schon folgen auch bettelnde Räuber, um vom reichen Schmause des Wüstenkönigs ihre Brosamen zu erhaschen. Da schwirrt krächzend der Nimmersatte Geier durch die Lüfte; da folgt die häßliche Hyäne (der Dichter nennt sie die Entweiherin der Grüfte) gierig der Blutspur; da naht mit schnellen Schritten der Panther, dieser berüchtigte Herdenräuber. Mit neidischem Staunen sehen sie den erbarmungslosen Gebieter auf lebendigem Throne sitzen, sehen, wie er seine scharfen Klauen immer tiefer in das Tier bohrt. So sehr auch die Giraffe sich bäumt, so wütend sie ausschlägt, so rasend sie sich wehrt und sträubt, es nützt ihr doch nichts. Ihres gefährlichen, todbringenden Reiters vermag sie sich nicht zu entledigen. Endlich sind unter dem furchtbaren Todesritt ihre Kräfte bis auf den letzten Rest erschöpft. Am

	This work is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author's life plus 100 years or fewer. You must also include a United States public domain tag to indicate why this work is in the public domain in the United States.
	This file has been identified as being free of known restrictions under copyright law, including all related and neighboring rights.

https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/PDMCreative Commons Public Domain Mark 1.0falsefalse

This work is in the public domain in the United States because it was published (or registered with the U.S. Copyright Office) before January 1, 1929. Public domain works must be out of copyright in both the United States and in the source country of the work in order to be hosted on the Commons. If the work is not a U.S. work, the file must have an additional copyright tag indicating the copyright status in the source country. Note: This tag should not be used for sound recordings.PD-1923Public domain in the United States//commons.wikimedia.org/wiki/File:Musteraufs%C3%A4tze_1913_von_Theodor_Paul_-_Seite_083.jpg